Dr. Nelly Simonov beginnt ihre Seminare zum Thema interkulturelle Kompetenz gern mit einer kleinen Übung. Die Teilnehmer gehen paarweise durch den Raum und stellen sich gegenseitig Fragen, die nur mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden dürfen. Im weiteren Verlauf soll ein „Ja“ von einem Kopfschütteln, ein „Nein“ von einem Kopfnicken begleitet werden. Ein Einsteig mit Wirkung.

Frau Simonov, welchen Zweck hat diese Übung?

Nelly Simonov: Sie wirkt auf die meisten Teilnehmer wie ein kleiner Kulturschock. Es fällt schwer, die gewohnte Körpersprache im Bezug auf ja und nein zu ändern. Das zeigt, wie stark wir kulturell geprägt sind. Wenn es so schwierig ist, eine scheinbar kleine Angewohnheit zu ändern, wie schwer muss es da mit anderen Verhaltensweisen sein? Diese Übung ist ein guter Einstieg in die Selbstreflexion. Meiner Meinung nach die wichtigste Voraussetzung für interkulturelle Kompetenz.

Was braucht es noch, um interkulturell kompetent zu werden?

Nelly Simonov: Offenheit und Neugierde. Ich muss offen dafür sein, meine eigenen Prägungen und Werte zu hinterfragen, und echtes Interesse an anderen Menschen zeigen. Wir sehen meist nur die Oberfläche des sogenannten Kultur-Eisbergs. Dazu gehören zum Beispiel Essen, Kleidung und Rituale. Aber darunter liegt so viel mehr, was Regeln und Werte einer Kultur ausmacht. Kein Wert ist per se gut oder schlecht, alles hat seinen Grund. Dafür will ich in meinen Seminaren sensibilisieren.

Gibt es theoretische Ansätze, die dabei helfen können, kulturelle Unterschiede zu verstehen?

Nelly Simonov: Die gibt es, auch wenn man sie nie pauschal auf Individuen übertragen sollte. Ein Beispiel: Deutschland hat vergleichsweise früh die Industrialisierung durchlaufen. Das hat Spuren hinterlassen. Wir sind durch Taktung und Struktur geprägt, Arbeitszeit ist klar definiert. Zeit ist Geld. Das macht uns zu einer Leistungsgesellschaft. In Agrargesellschaften bestimmt die Natur das Leben. Die Menschen sind viel mehr aufeinander angewiesen. Wenn ich ernten will, weil das Wetter gut ist, brauche ich die Hilfe der Gemeinschaft. Beziehungen haben einen hohen Stellenwert, wir sprechen daher von Beziehungsgesellschaften.

Welche Konflikte können sich aus diesem Unterschied ergeben?

Nelly Simonov: In unserer Leistungsgesellschaft wird Pünktlichkeit als sehr wichtig angesehen. Der Grund: sind wir pünktlich, schaffen wir unsere Arbeit in einer festgelegten Zeit. Nehmen wir nun das Beispiel Deutschkurs. Lehrende ärgern sich oft über Teilnehmer, die zu spät kommen. Sie werden als faul und disziplinlos empfunden. Dabei kommen sie möglicherweise aus einer beziehungsgeprägten Kultur. Vielleicht haben sie vor dem Unterricht noch einen Verwandten vom Flughafen abgeholt, und das hat länger gedauert. Diese Beziehung ist ihnen einfach wichtiger als absolut pünktlich zu kommen.

Wie kann man in derartigen Situationen interkulturell kompetent reagieren?

Nelly Simonov: Indem man zunächst vorurteilsfrei und ohne Vorwurf nach dem Grund des Zuspätkommens fragt. Und darüber hinaus, indem man das Gruppengefühl im Kurs stärkt. Nach dem Motto: Wir wollen gemeinsam eine Prüfung schaffen, deswegen ist es wichtig, dass wir genügend Zeit zum Lernen haben und rechtzeitig da sind. Damit appellieren die Lehrerin oder der Lehrer an die Solidarität mit dem Kurs und betonen den Beziehungsaspekt.

Was kann man ganz konkret tun?

Nelly Simonov: Die Zeit zu Beginn des Unterrichts für Gruppenaktivitäten reservieren. Das kann ein gemeinsames Frühstück sein, bei dem ganz nebenbei die Kommunikationsfähigkeit gefördert wird. Falls das nicht möglich ist, eignen sich auch spielerische Aktivitäten sehr gut, um den Zusammenhalt im Kurs zu stärken. Das kommt letztlich allen zugute.

Mehr über Dr. Nelly Simonov, ihre Seminare, Bücher und Lesungen erfahren Sie auf ihrer Website www.nelly-simonov.de.